KUNST IM BRIEFKASTEN
Elisabeth Konrath
Grüne Filzhüte, geschmückt mit lustigen roten Federn, zünftige Knickerbocker, rot-grüne Wollstutzen: Eine Trachtenkapelle musiziert unter freiem Himmel, weiße Schäfchenwolken ziehen über die Köpfe der Musikanten. Die Kapelle sitzt auf einer satten grünen Wiese, die Landschaft erscheint so weit wie der Horizont – ein schöner Tag, ein Feiertag.
Ein Bild aus einem Heimatfilm? Oder doch aus einem Prospekt der österreichischen Fremdenverkehrswerbung? Wäre da nicht die Textzeile, die in grellem Pink über dem Motiv dieser idyllischen Szenerie schwebt: „...glücklich ist, wer vergisst, was nicht mehr zu ändern ist.“
Wer einmal lügt...
„Es ist schon klar, dass dieses Projekt mit der aktuellen politischen Situation zu tun hat. Nach der schwarz-blauen Regierungsbildung im Februar 2000 gab es viele spontane Unmutsäußerungen, zum Beispiel die Demonstrationen. Dabei darf es aber nicht bleiben, à la longue muss man andere Ausdrucksformen finden. Irgendwann hat es dann begonnen, sich zu normalisieren, jeder gewöhnt sich an die Situation. Ich wollte genereller reagieren, eher auf das Wesen der Österreicher und nicht absolut auf die konkrete politische Lage. Die Berechtigung wäre vor fünf oder zehn Jahren genauso dagewesen.“ Helmut Kandl kombiniert in seinem Projekt Wer einmal lügt... oft verwendete, österreichische idiomatische Aussprüche mit Fotografien zu neuen Motiven, die als Postkarten gedruckt werden. Seit April 2000 verschickt der Künstler alle vier bis fünf Wochen eine neue Postkarte an einen Empfängerkreis von rund 200 Personen – an Bekannte und Freunde, an Politiker und Künstler, an Menschen im kulturellen und öffentlichen Bereich. Die erste Postkarte, die parkende Autos auf der Gasse vor Kandls Atelier zeigt, kombiniert mit dem Sprichwort: „Eine Hand wäscht die andere.“, erhielten auch 35 willkürlich aus dem Telefonbuch ausgewählte Adressaten. Teilweise heftige Reaktionen blieben nicht aus und waren für Kandl der ausschlaggebende Punkt, das Projekt fortzusetzen.
Zentral ist der Charakter der Postkarte als Kommunikationsmittel: Jede einzelne Karte wird handschriftlich adressiert und frankiert, im linken unteren Eck der Rückseite finden sich der Projekttitel, die Nummer des Motivs und Kandls Absender, samt Telefonnummer und E-mail-Adresse. „Eine Postkarte ohne Absender, das finde ich eigentlich unfair. Ich mag das an sich nicht gerne, wenn man bei Kunst, die außerhalb des normalen Kunstkontextes gezeigt wird, hauptsächlich im öffentlichen Raum, die Leute blöd sterben läßt. Man muß ihnen die Möglichkeit geben, zumindest irgendeine Ebene zu dekodieren. Im Prinzip ist es ja auch wie eine Ausstellung, bei der du dir die Besucher selbst auswählst.“ Also eine Ausstellung, die das Pferd von hinten aufzäumt: Sie wird nicht besucht, sondern besucht selbst, auch Menschen, die sich nicht für Kunst (und Politik) interessieren. Das kann irritieren und provozieren, durch die Angabe des Absenders besteht jedoch die Möglichkeit der Reaktion und der Interaktion: „Einige haben die Karte zurückgeschickt. Es haben mich ein paar angerufen, ein paar waren irrsinnig erbost, manche waren verunsichert, denen habe ich erklärt, warum ich das mache. Manche haben dann gesagt, ja, schicken Sie mir das weiter – oder eben net.“
Die Idee des Art-mailings ist nichts Neues, auch die politische Motivation ist nicht überraschend, sondern eher typisch für Helmut Kandls Schaffen. Der Künstler arbeitet oft mit Text-Bild-Kombinationen, häufig auch in gemeinsamen Projekten mit seiner Frau Johanna und seinem Schwager Leo Kandl. Ein Beispiel für diese Kooperation ist die Ausstellung WACHAU-BILD (Kunsthalle Krems, 1996), für die eine große Anzahl privater Fotografien gesammelt und in Kombination mit Zitaten aus diverser, die Region betreffender Literatur gezeigt wurde. Dieses Material wurde auch in dem zwei Jahre später erschienenen Buch Mariandl andl Landl, komplettiert durch eine ausgedehnte Literaturrecherche, publiziert.
Wer einmal lügt... unterscheidet sich insofern von anderen Arbeiten, bei denen Bilder und Texte kombiniert werden, dass der Künstler prinzipiell nur im alltäglichen Sprachgebrauch übliche Zitate und Sprüche verwendet: „Ich bin ja auch kein Wissenschaftler; wenn ich es kenne, werden es auch viele andere kennen. Ansonsten verwende ich eher Texte, die mir markant vorkommen, wobei es aber immer wichtig ist, dass sie relativ kurz sind.“ Diese Sprichwörter oder Zitate sucht Kandl meist aus seiner reichhaltigen Datenbank aus und kombiniert sie mit Fotos aus seinem umfangreichen Bildarchiv – „Ich lasse das immer ein paar Tage auf mich wirken, bis es wirklich passt.“ Ein Kriterium bei der Bildauswahl ist die Voraussetzung, daß das Motiv in Österreich aufgenommen wurde, ein zweites, dass man die abgebildeten Personen nicht erkennt. Die Autorenschaft hingegen ist unwichtig.
Die Text-Bild-Kombinationen sind auf mehreren Ebenen dekodier- und interpretierbar und können daher von vielen Menschen „gelesen“ werden. Vordergründig zeigt beispielsweise Postkarte # 4, die am Anfang des Textes beschrieben ist, eine Trachtenkapelle auf einer Wiese. Die Textzeile „...glücklich ist, wer vergisst, was doch nicht zu ändern ist“ entstammt einer bekannten Operette und ist zumindest in Österreich Teil des Allgemeinwissens. Die Collage von Bild und Text führt nun aber auf eine weitere Ebene, sie löst aus dem Kontext und schafft einen neuen. Welcher Sinn sich den Betrachtern erschließt, liegt vor allem bei ihnen. Unsere Wahrnehmung ist durch bestimmte Darstellungscodes geprägt; neben dem reinen, sachlichen Informationswert gibt es emotionale, affektive, wertende Bedeutungsaspekte, die ein Mehr an Information transportieren. Bild und Text in ihrer Neukombination rufen durch diese konnotierten Bedeutungen eine Reihe von Assoziationen auf, die möglicherweise irritieren und auch mit negativen Aspekten konfrontieren. Dieses Prinzip versteht Helmut Kandl in meisterhafter Weise einzusetzen: Er richtet seine Pfeile genau auf die empfindlichen oder gar wunden Punkte der österreichischen Seele.
An erster Stelle der Liste der „Gegenstände des österreichischen Nationalstolzes“ steht die österreichische Landschaft: Österreich, das ist also Landschaft, Kulturnation, Mozart, Kaffeehaus, Walzertraum, Natur. Österreich, die „Insel der Seligen“? Kandl spielt mit diesen Motiven, Klischees und Stereotypen, diesen Bedeutungen, die ständig reproduziert und erneut behauptet werden müssen, damit sie als solche stabil werden und das Alltagsbewusstsein bestimmen können. Seine Postkarten sind ein Kommentar zum Zustand einer Gesellschaft. Und er nimmt seine eigene Person nicht aus: „Ich fühle mich schon selbst auch ein bisschen betroffen.“ Dieser immanenten Kritik kann sich eigentlich niemand entziehen, deshalb würde auch der Versuch einer (politischen) Instrumentalisierung scheitern.
Politisch motivierte Kunstprojekte sind schwierig zu subventionieren, weil es ja auch gilt, den Eindruck einer wie auch immer gearteten Abhängigkeit zu vermeiden. Aus diesem Grund finanziert Helmut Kandl sein Postkartenprojekt selbst. Durch den Verkauf der Karten im Shop der Kunsthalle Wien kommen zumindest die Portokosten wieder herein, in großen Mengen werden die Karten auch zum Selbstkostenpreis abgegeben. „Außerdem geht es bei politischem Agieren ja nicht um Gewinn, sondern um die Verbreitung, das Erreichen einer Öffentlichkeit.“
Zu dieser Öffentlichkeit gehören auch die Politiker: „...Klestil, Einem, Gusenbauer, Marboe – ich habe ja oft erst eine halbwegs vernünftige Adresse kriegen müssen, viele stehen ja nicht im Telefonbuch. Manche sind drinnen, interessanter Weise.“ SPÖ, ÖVP und die Grünen haben direkte Reaktionen auf die Postkarten gezeigt, erzählt Kandl: „Von den Grünen hat mich zum Beispiel die Stoisits darauf angesprochen, oder der Gusenbauer hat angerufen, und der Marboe von den Schwarzen. Die KPÖ hat sogar welche gekauft. Da gibt es Reaktionen unmittelbarer Art. Bei der F gibt es das nicht.“ Peter Sichrovsky von der FPÖ sei auch in seiner Adresskartei, doch der habe die Karten ab der fünften zurückgeschickt: „Die Hand, die einen füttert, soll man nicht beißen.“ war anscheinend eine zu direkte politische Aussage. „Ich glaube, die F-ler haben insgesamt ein schwieriges Verhältnis zu Kunst und Kultur. Sie fühlen sich, teilweise mit Recht wahrscheinlich, ...sie haben immer Angst, dass sie gelegt oder bloßgestellt werden. Mir ist nur aufgefallen, man kriegt von ihnen nichts.“