ANEKDOTEN
Mecklenburg’sche Geschichten
Die Wiedervereinigung Deutschlands und die damit verbundene Änderung des Wirtschaftsystems haben die Menschen in vielen Orten der ehemaligen DDR oft sehr verunsichert – manchmal durchaus nachvollziehbar.
Wir waren zu einem partizipatorischen Projekt in einen netten kleinen Ort in Mecklenburg eingeladen.
In dem Ort gab es keine Einkaufsmöglichkeit mehr, der Supermarkt war vor Jahren geschlossen worden, und das Gebäude verfiel schön langsam. Als wir einen Dorfbewohner darauf ansprachen, begann dieser sofort zu klagen.
Er erzählte uns, dass eine Gruppe von Personen des Ortes seit einiger Zeit den Laden in Eigeninitiative wieder betreiben wollten, um die Versorgung im Ort wiederherzustellen. Die Treuhand Ost verhindere dies jedoch, und sonst habe sich halt noch niemand gefunden. Er glaube, dass die Treuhandgesellschaft Interesse an einer langsamen Abwicklung habe, damit die Verantwortlichen ihre gut bezahlten Jobs länger behalten könnten.
Das Gestüt (ein ehemaliger Vorzeigebetrieb der sportlich engagierten DDR) sei bald nach der Wende privatisiert worden, da hätten einige bestimmte Interessen gehabt. Da seien wertvolle Pferde sehr billig verkauft und am selben Tag um ein Vielfaches weiterverkauft worden.
Der Nachbarort des Dorfes hatte nur 30 oder 40 Häuser, und zu DDR-Zeiten hatte es eine kleine Poststelle gegeben. Die Zustellung der Post wie den Dienst im Postamt hatte eine Frau aus dem Ort besorgt. Nun war dieses Postamt seit langem geschlossen. Für die Zustellung der Briefpost kam nun täglich ein Postbeamter aus der etwa zehn Kilometer entfernten Kleinstadt. Die Paketpost lieferten seit einigen Jahren private Zusteller, die nun separat von der Briefpost auch diesen kleinen Ort regelmäßig anfahren mussten. Wenn jedoch jemand aus dem Dorf einen Brief oder ein Paket versenden wollte, musste er zum Postamt in die erwähnte Kleinstadt fahren.
Die Dame, die seinerzeit die kleine Poststelle betreut hatte, war seit Jahren arbeitslos und lebte von der staatlichen Unterstützung.
In diesem Ort konnten wir in einem schönen ehemaligen Bauernhof wohnen. Die Eltern des Besitzers hatten den Hof noch selbst betrieben.
Da die Felder zu DDR-Zeiten von einer Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft bestellt worden waren, war der Sohn nicht mehr Bauer, sondern Elektriker geworden. Nach der Wende war die LPG natürlich aufgelöst worden, und die Familie hatte ihren Besitz zurückbekommen.
Für die Fortsetzung der Landwirtschaft im Ort hatten sich nicht viele gefunden, da die zuletzt in der LPG Beschäftigen nicht das Kapital zur Anschaffung eines Betriebes (Felder, Betriebsstätte, Maschinen etc.) gehabt hatten. Größere Investoren hatten sich für diesen kleinen entlegenen Ort auch nicht gefunden.
Der Sohn stellte den Großteil der Felder kostenlos einem Schäfer zur Verfügung, der auf dem ehemaligen Ackerland nun seine Tiere weiden ließ.
Da sich der Elektriker verpflichtet fühlte, des Erbe seines Vaters nicht verwahrlosen zu lassen, hatte er auf den anderen Grundstücken Rasen angebaut und Sträucher gepflanzt. Seine Freizeit (Wochenenden und Urlaube) benötigte er, das alles in Schuss zu halten.
Auch die Landwirtschaftsingenieurin, die die LPG geleitet hatte, war arbeitslos geworden. Sie betreute nun das Kind ihrer Tochter, weil es keine Kinderbetreuungsstätten mehr gab. Sie sagte: „Das soll nun eventuell anders werden. Die Regierung hat jetzt vor der Wahl eine Idee gehabt, wie sie junge Paare wieder zu mehr Kindern motivieren kann. Sie will im ganzen Land mehr Kinderbetreuungsstätten einrichten.“
Helmut & Johanna Kandl