Helmut und Johanna Kandl entwickeln Installationen und Interventionen als zeitgemäße Alternativen zum gewohnten Denkmalkult

Arbeit an der Erinnerung   

Von Brigitte Borchhardt-Birbaumer

Die westliche Welt empfand es nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs jahrzehntelang als politisch-moralische Verpflichtung, künstlerisch gestaltete Mahnmale gegen den Faschismus und Gedenkstätten an den Holocaust zu errichten. Lange stritt man über den dafür angemessenen Stil, und schließlich siegte die Abstraktion, die von den Diktatoren des 20. Jahrhunderts verfemt worden war, über den Realismus.

Archiskulpturen wie Peter Eisenmans Stelen in Berlin oder Rachel Whitereads Bibliotheksabguss am Wiener Judenplatz galten als gelungene, zeitgemäße Lösungen dieses Kunstproblems.

Nach dem Fall des Kommunismus wurden die figuralen Statuen dieses Systems gestürzt; nur die Ungarn versammelten solche in einem Statuenwald bei Budapest – dort verkommen sie zwar zu einem Art Disneyland-Vergnügungspark, bleiben aber irgendwie in Erinnerung. (Kürzlich beklatschte man im Kosovo ein bronzenes Abbild Bill Clintons als Retter vor den Serben, sonst gibt es Führergestalten in realistischem Stil nur mehr in fernen Diktaturen – die bei internationalen Kunstmessen und Biennalen auftretende Künstlerschaft hat sich längst von der veralteten Form des Denkmals befreit.)

Techniken wie Abguss oder Maske, Alltagsgegenstände als Ready Mades oder konzeptuelle Einschreibungen sind an die Stelle von fest stehenden Skulpturen oder symbolischen Torarchitekturen getreten. Zwitterhafte Objekte und bewegliche Plastiken, die es seit dem Kinetismus der zwanziger und dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts gibt, erleben eine adaptierte Aktualität: Foto und Film als fließende Dokumentationsmittel einer weniger linearen als vielmehr in alle Richtungen labyrinthisch verlaufenden Geschichte.

Soziale Vernetzung

Nicht mehr einem elitären Künstlerbegriff folgend, sondern mit der Umgebung verbunden, "in Augenhöhe" sozial vernetzt, arbeitet ein Künstlerpaar, das seit Jahrzehnten zu den besonderen Beobachtern der Welt zwischen Ost und West gehört: Helmut und Johanna Kandl.

Johanna Kandl malte als junge Künstlerin die Denkmäler von Niederösterreich; auch heute noch nähert sie sich Gedenkorten zu Fuß, und ihre Kunstkonzepte betonen das Überschreiten von Grenzen – von Ländergrenzen wie von solchen ihrer ureigenen Medien. Sie nützt die Schrift als Gegengewicht zu (nach Fotos gemalten) Bildern von scheinbar alltäglichem Geschehen an besonderen Orten. Exemplarisch dafür stehen Manager-Slogans in der typischen Sprache des Neoliberalismus. Und dies löst ein Gefühl von Unbestimmbarkeit und spannender Vielschichtigkeit aus.

In den letzten Jahren haben sich Helmut und Johanna Kandl zwei wesentlichen Projekten im öffentlichen Raum gewidmet: Erstens collagierten sie im niederösterreichischen Herrnbaumgarten einen Baum mit Reproduktionen von berühmten Marienwallfahrtsorten von Maria Taferl bis Lourdes. Das Vorbild des erinnerungsträchtigen Baums geht über barocke und mittelalterliche Votivgaben bis zu Schamaneneichen zurück und über religiöse Grenzen hinweg. Zweitens halten ihre Interventionen in Aflenz bei Leibnitz in der Südsteiermark seit einigen Monaten die Erinnerung an die (zum Großteil ermordeten) Zwangsarbeiter im ehemaligen Außenlager des Konzentrationslagers Mauthausen wach.

Obwohl das "Einschreiben" vor Ort beide Orte verbindet und das Paar versucht, "stimmige" Annäherungen an den jeweiligen Ort zu finden, sind die beiden Kunstdialoge thematisch konträr. Der "Marterl-Baum" im Ortsgebiet von Herrnbaumgarten ist das Ergebnis einer längeren wissenschaftlichen Recherche über Kultorte, die seit der Prähistorie volkstümlich verehrt wurden. Die Kandls reisten an berühmte Wallfahrtsorte wie Maria Laach, Altötting, Einsiedeln, Montserrat, Loreto, Czêstochowa oder Levoèa, wanderten mit Pilgern nach Mariazell, drehten Filme mit Aussagen von Wallfahrern und kauften Nachbildungen des jeweiligen Gnadenbilds – Beispiele von kunstlosem Devotionalienkitsch. In Holzkästen montiert, sind diese kleinen Abbilder oder Statuetten an ein Gitter um den Baum in Herrnbaumgarten montiert. Dazu können Blumengestecke kommen; Veränderungen und Ergänzungen sind im offenen Konzept integriert, das die "Kunst im öffentlichen Raum von NÖ" in Auftrag gab.

Das gilt auch für Aflenz. Primo Levi gibt das Motto vor mit seiner Erkenntnis: "Es ist geschehen, und folglich kann es wieder geschehen". Erste Intervention: Das ehemalige Wächterhaus des Lagers, heute eine Ruine, wird notdürftig revitalisiert, damit es nicht weiter verfällt, ein Parkplatz daneben angelegt, einen hellrote Schrift bezeichnet den Ort. Zweite Intervention: Im überdachten Teil gibt es neben Informationstafeln einen Screen, auf dem Menschenrechtsverletzungen der Gegenwart thematisiert werden. Das Screen-Magazin "messages, repeated" wird, gemeinsam mit einschlägigen Organisationen und Historikern, ständig aktualisiert. Aufgelistet werden Verstöße gegen die Menschenrechts-Resolution 217A aus dem Jahre 1948. Nachschubmaterial dafür gibt es genug – die Kandls haben während des letzten EU-Wahlkampfes Unglaubliches in Zeitungen gefunden und in Wirtshäusern erlauscht, was noch an verbotenem NS-Gedankengut präsent ist.

Dritte Intervention zu Aflenz: Ein Begleitheft mit Texten der beiden Künstler, sowie von den Wissenschaftern Werner Fenz und Bertrand Perz. Zu einigen Schwarzweiß-Fotos und Plänen des Lagers kommt ein Interview mit dem Zeitzeugen Franz Trampusch. Er wurde 1934 geboren und lebte mit seiner Mutter und seiner Schwester im Sperrgebiet – aufgrund seiner Beobachtungen wurde er zu einem Betreiber des Erinnerungsprojekts. Vom Wächterhaus, nahe einer Kapelle gelegen, wurden Wachtposten ausgeschickt, um Stellung zu beziehen vorm Eingang zu den unterirdischen Stollen für die Rüstungsindustrie der Firma Steyer-Daimler-Puch, oder vor den längst verschwundenen Baracken, in denen die Zwangsarbeiter aus dem KZ Mauthausen eingepfercht waren.

Interaktive Kunst

Heute ist dort, wo das Lager war, ein landwirtschaftlich genutztes Feld. Ein ehemaliges Massengrab am Abhang neben einer Straße ist nicht gekennzeichnet.

Im Wald finden sind noch die Luftschächte und Eingänge zu der teils noch begehbaren unterirdischen Rüstungsfabrik im sogenannten "Römersteinbruch" mit Ziegeleinbauten und Sgraffiti an den Wänden. 1944 schufteten dort 711 Häftlinge aus dem KZ Mauthausen, aus Wiener Neudorf und Peggau – sie kamen aus der Sowjetunion, Jugoslawien, Polen, Frankreich, Spanien, Tschechoslowakei, Griechenland und aus dem "Deutschen Reich", manche aus Ungarn und Belgien, und einige sogar China. 467 kamen schließlich 1945 über Judenburg ins KZ Ebensee. Schwache, Kranke und Flüchtige wurden ermordet. Trampusch sah als Kind mehr als 40 Exekutionen, wurde dazu gezwungen, nachdem seine Mutter gegen einen Totschlag protestiert hatte. (Es ging damals um die Blätter eines Zwetschkenbaums, die ein Häftling in seinem Hunger gegessen hatte; das Vergehen war: Beschädigung deutschen Eigentums.)

Mit der offenen und in der Bevölkerung integrierten Form dieses Erinnerungsgeländes haben die Kandls den Kunstbegriff erweitert und sich damit bei dem international ausgeschriebenen Wettbewerb für Aflenz gegen namhafte Konkurrentinnen wie Sanja Ivekoviæ und Danica Dakiè durchsetzen können, nicht zuletzt deshalb, weil ihr Bogen zur Gegenwart und die soziokulturelle Anbindung die Fachjury überzeugte. Ein Prozess, der das Gedächtnis in Gang hält, ersetzt hier den einmaligen Akt des Denkmalbesuchs: Wer das Gelände gehend erfährt, und nicht nur kurz einen Kranz niederlegt, erweitert auch die eigenen Grenzen.

Unsere Gesellschaft hat sich seit der Mitte der neunziger Jahre hin zu einer Informations-, Innovations- und Wissensgesellschaft entwickelt. Doch wir kommen mit all dem Neuen nur schwer mit, wir beharren auf dem Alt-Eingelernten, das unsere Flexibilität durch die Macht des Beharrens blockiert. Das gilt auch für die Kunst: Wie viel leichter ist es, als Genies bezeichnete Malerfürsten mit verwegener Pratze anzubeten, als das neue, unheroische Bild vom Künstler zu akzeptieren, der (auch noch jenseits der Geschlechterkämpfe der siebziger Jahre) interaktiv mit Umgebung und Betrachter agiert. Der Künstler wächst durch die Aktualisierung alter Riten im Bereich der kulturellen Leistung namens Erinnerung immer mehr ins Alltagsleben hinein, er wird anonymer.

Neu ist der Austausch von Kunst und Leben allerdings nicht: Der Kunsttheoretiker Carl Einstein (1885 – 1940) hat bereits auf den Bezug der klassischen Moderne zur Prähistorie hingewiesen, Joseph Beuys hat als Kunstschamane zwischen der Alten und der Neuen Welt korrespondiert – und stand am Anfang der Auflösung des priesterlichen Künstlerbilds aus dem 19. Jahrhundert. Die Kandls sind längst am Ziel angekommen. Sie fallen zwischen den Pilgern höchstens durch ihre Kamera und ihre Fragen auf, und ermöglichen uns einen neuen Umgang mit der unmittelbaren Vergangenheit. Aber sie eröffnen uns auch einen Zugang zu der Erinnerung daran, dass nicht nur die Kunst der Menschen alte Wurzeln hat. Um zwischen offenen Grenzen immer in Bewegung zu bleiben, brauchen wir alte Rituale, transformiert in aktuelle Kunst.

Brigitte Borchhardt-Birbaumer ist Kunsthistorikerin und -kritikerin, Kuratorin, Lektorin an der Universität Wien und an der Akademie der bildenden Künste.

Printausgabe vom Samstag, 02. Jänner 2010
Online seit: Mittwoch, 30. Dezember 2009 19:57:00